Hätte er einige Jahrhunderte früher gelebt, er wäre mit den Lehrlingen zusammen in Saïs gewesen, und sicher hat Novalis an ihn gedacht, als er sagte: „… weil jeder neue Weg durch neue Länder geht, und jeder endlich zu diesen Wohnungen, zu dieser heiligen Heimath wieder führet“.
Es geht hier wirklich um eine schmerzhafte Reise, um eine schreckenerregende Reise, um eine Rückkehr in die heilige Heimat, die Emmanuel Bornstein seit frühester Jugend unternimmt. Eine Rückkehr, in der die Farben nichts als Leidensschichten sind, Gewalttätigkeiten, um den dichten Nebel mit dem Messer aufzuschneiden, der doch nur deshalb da ist, um dem Blick nicht das Unsichtbare, sondern das Unschaubare zu verschleiern. Er aber will sehen! Und wenn er malt, dann nicht so sehr, um zu zeigen, sondern um zu sehen. Diese Selbstporträts mit müdem Gesicht zeugen davon: ein weiterer aufreibender Tag. Emmanuel Bornstein will Medusa ins Gesicht sehen. Er will ihren Blick sehen, ganz gleich, ob man zur Steinfigur erstarrt. „Alle Zufälle unsers Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen“, und er macht daraus von seinen Händen ausgespuckte Bilder!
Er will sehen!
Dieser Rückweg, auf den er sich begibt, verlangt ihm deshalb große Opfer ab, und deshalb ist die Gemeinschaft der Freunde für ihn wesentlich. Er braucht sie. Niemand kann allein an den Rand der Felsschluchten treten, um die ausgemergelten Kinderkörper zu erblicken. Was, glauben Sie, sind dem Dichter die Dichter? Man braucht Wasser, um die Wüste zu durchqueren. Auch der Maler braucht Stimulanzien, und wenn unserer hier sie bei Goya, Beckett, Basquiat, Bacon findet, dann nicht so sehr, um bei ihnen Inspiration, sondern den nötigen Halt zu finden, den Mut, einen Schritt weiter in die Leere zu gehen.Aber was ist diese heilige Heimat, um die es geht? Welches Land versucht Emmanuel Bornstein wiederzufinden? Was ist das Ithaka dieses Odysseus? Um Antwort auf diese Frage zu geben, muss man zunächst ein Wort schreiben:
Jude
Ich schreibe dieses Wort, ohne andere, es rahmende Worte. Ich stelle es mitten hinein ins Weiß der Seite. So kann man sehen, wie das Weiß der Seite problematisch wird, denn dieses problematische Weiß versucht Emmanuel Bornstein verzweifelt Bild um Bild zu füllen, denn allzu sehr sind die Worte vom Füllen in sich zerfallen. So ist es nun ein verwaistes Wort. Und es muss einige geben, die es weiter tragen, man muss an die Ungeheuerlichkeiten erinnern, deren man es bezichtigt hat – aber was hat es mit den roten Nasen in den Gesichtern der Porträts dieser erschöpften Männer auf sich? Einer muss versuchen, dieses Wort zu seiner heiligen Heimat zurückzubringen. Und man soll sich nicht vertun, für den Maler bedeutet gelobtes Land nicht heiliges Land, denn er sucht nicht Milch und Honig, sondern Blut und Schmutz. Er sucht nicht Ruhe und Frieden, sondern Zorn und Gehenna. Das heilige Land ist der Ort des Verbrechens, Land der un-erhört gewordenen Sprache. Novalis‘, Hölderlins, Hofmannsthals Sprache. Ausnahmslos jedes seiner Bilder drückt dies aus: „Ich bin Jude und nach Deutschland bin ich zurückgekommen, um den Worten ihre Farbe zurückzugeben, und den Leiden ihre Worte. Was soll’s, ob ich verrückt werden muss, was soll mir der Tag, der Frühling, meine Jugend, ich werfe all das in die Brennesseln, wenn ich nur die Erinnerung eines erloschenen Blickes dem Vergessen entreiße.“Nichts ist mächtiger als jener, der zum Ort des Verbrechens zurückgeht, und, dort angekommen, sagt: „Dieser Ort, an dem man mich massakriert, verbrannt, an dem man meine Kinder und meine Eltern ausgelöscht hat, wo man meine bekannten und unbekannten Freunde vernichtet hat, dieser Ort ist meine Heimat und in ihr pflanze ich den Baum meiner Farben.“In Saïs nennt man jenen Dichter.
Wajdi Mouawad
aus dem Französischen von Uli Menke
1Novalis, Die Lehrlinge zu Saïs, Zitat vom Ende des ersten Kapitels, Der Lehrling
2Novalis, Blüthenstaub, 66